Am 05.11.2021 veröffentlichten ver.di und die kommunalen Spitzenverbände ein gemein- sames Papier mit dem Titel „Eckpunkte für eine Neugestaltung der Erzieherinnen- und Erzieherausbildung“. In diesem Eckpunktepapier fordern sie eine radikale Abkehr von der bisherigen Ausbildung von Erzieher*innen an Fachschulen bzw. Fachakademien für Sozialwesen. Der Kerngedanke der Autor*innen ist, die Ausbildung in das „Duale System“ der Berufsausbildung zu überführen.
Die Unterzeichnenden gehen allerdings von eklatanten Fehleinschätzungen bzgl. der Lage an den Fachschulen/-akademien aus und sämtliche Argumente wurden in den letzten Jahren von diversen Stakeholdern (Deutscher Verein, BMFSJ sowie die KMK als auch die JMK) abgelehnt. Im Detail handelt es sich vornehmlich um folgende Punkte1:
„Eine relevante Steigerung der Auszubildendenzahlen wird nur gelingen, wenn die Attraktivität der Ausbildung nachhaltig steigt.“
Falsch, denn die Erzieher*innenausbildung hat kein Attraktivitätsproblem, sie ist ein Erfolgsmodell. In den vergangenen 10 Jahren hat sich die Anzahl der Einsteiger*innen in die Ausbildung von knapp 21.000 bundesweit auf 41.500 bundesweit erhöht (vgl. Fachkräftebarometer 2021 WiFF). Die Tendenz ist nach wie vor steigend, das Interesse an der Ausbildung ist demnach ungebrochen hoch. Demgegenüber stehen sinkende Absolvent*innenzahlen in den abgebenden allgemeinbildenden Schulen und sinkende Schüler*innenzahlen/Ausbildungszahlen in allen anderen Berufsbereichen. Es handelt sich bei der Erzieher*innenausbildung bundesweit um die mit Abstand quantitativ größte Ausbildung im Bereich Sozialwesen. Ein Strukturwandel gefährdet diese Erfolgsgeschichte.
„Die Gewährleistung vergleichbarer Rechte [zu den dual organisierten Ausbildungen] würde die bestehenden Wettbewerbsnachteile der sozialen Berufe auf dem Ausbildungsmarkt abmildern und sich positiv auf die Gewinnung zukünftiger Erzieherinnen und Erzieher auswirken.“
Falsch, denn die Fachschüler*innen in einer Vollzeitausbildung haben Anspruch auf „Aufstiegs-BaföG“ in Höhe von knapp 900 €. Als Eltern bekommen sie weitere Zuschläge. Fachschüler*innen in den vergüteten praxisintegrierten Ausbildungsformen werden tariflich bezahlt. Dieser Tarif ist tatsächlich ein Problem, da er sich an einer Erstausbildung auf DQR 4-Niveau orientiert und nicht an dem Gehalt einer Person, die sich in einer Meister*innenausbildung weiterqualifiziert. Die berufliche und soziale Wirklichkeit der Fachschüler*innen wird nicht berücksichtigt. Ergo: Immer dann, wenn die Tarifparteien in das System eingreifen, kommt es zu eklatanten Fehlentscheidungen.
„Gleichzeitig soll auch durch die strukturelle Einbindung der Sozialpartner“ [1.] „eine größere Praxisnähe innerhalb der Ausbildung hergestellt und“ [2.] „eine bessere Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche und fachliche Entwicklungen realisiert werden.“
[1.] Falsch, denn die Praxisnähe der Fachschulen/-akademien beruht auf mindestens einem Drittel der Ausbildung am Lernort Praxis (in der Regel mehr als 1200 Stunden). Sie ist durch die direkte Auseinandersetzung der Fachschüler*innen mit Kindern/Jugendlichen, Teams, Eltern etc. in den Einrichtungen gegeben. Alle Prüfungsordnungen geben dem Lernort Praxis erheblichen Raum, sich bei der Professionalisierung der Fachschüler*innen einzubringen und Bewertungen vorzunehmen. Praxisnähe wird darüber hinaus durch die Einbindung der Beiräte und über die Zusammenarbeit mit den Jugendhilfeausschüssen erzeugt. Hier benötigen die Fachschulen/-akademien sicherlich keine weitere Funktionärsebene, die politischen Einfluss nehmen will.
[2.] Falsch, denn was auch immer die Autor*innen konkret mit der „Anpassungsfähigkeit“ meinen, die letzten strukturellen und inhaltlichen Reformen waren bundeseinheitlich und haben zu einer enormen Aufwertung der Ausbildung und des Berufs geführt. Gesellschaftliche und fachliche Entwicklungen können durch die Kompetenzorientierungen schneller und nachhaltiger als je zuvor in die schulinternen Curricula eingearbeitet werden. Wesentlich ist dabei, dass es keine Abhängigkeit von einzelnen Trägern oder Einrichtungen gibt, die den aktuellen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklungen hinterherhinken. Eine enge Kooperation der Fachschulen/-akademien mit den Trägern ist längst über die Verordnungen und die bestehenden Kooperationen strukturell verankert.
In einer nach BBiG organisierten Ausbildung würden die schulischen Unterrichtszeiten erheblich reduziert (mehr als 50%) und wesentliche curriculare Inhalte gingen verloren, die die berufliche Handlungskompetenz der Erzieher*innen aber erst herstellen. Negative qualitative Eingriffe in die Ausbildung führen nicht zur Stabilisierung der Quantität in den Einrichtungen, sondern zu Fluktuationen aus dem Feld und somit zu massiven Einbrüchen bei den Zahlen der Beschäftigten.
„Perspektivisch soll auch von der Voraussetzung eines mindestens mittleren Schulabschlusses abgesehen werden. Damit soll auch Schülern und Schülerinnen, die über einen Hauptschulabschluss verfügen, die Möglichkeit zur Ausbildung verschafft werden.“
Falsch, denn über eine solche Öffnung werden die Abbruchzahlen erhöht. Schüler*innen, die über den Hauptschulabschluss verfügen, sind in der Regel nicht in der Lage, eine Ausbildung zu „Staatlich anerkannten Erzieher*innen“ erfolgreich zu durchlaufen. In einigen Bundesländern dürfen sie mit diesem Abschluss in die Ausbildung zur Kinderpfleger*in. Trotz der in allen Bundesländern vorhandenen vertikalen Durchlässigkeit, gelangen nur wenige von ihnen in die Weiterbildung zur Erzieher*in. Ein Blick in die Anforderungsniveaus des DQR und in die Kompetenzbeschreibungen des länderübergreifenden Lehrplans, die die real existierenden Anforderungen an den Beruf der Erzieher*in widerspiegeln, reicht aus, um die Gründe dafür zu erkennen.
Formale Grundlagen der bisherigen Weiterbildung an den Fachschulen/-akademien werden von ver.di ausgeblendet und gesetzlich vorgegebene Zuständigkeiten nicht angemessen berücksichtigt.
Grundsätzlich falsche Wahrnehmung des Systems der Fachschulen/-akademien,denn die mittlerweile stabile Positionierung der Fachschulausbildungen, egal welcher Fachrichtung innerhalb des DQR, ergibt sich aus der Tatsache, dass diese Ausbildung eine Weiterbildung ist. Eine Erstausbildung, wie im Papier angedacht, erreicht ausschließlich das Niveau DQR 4.
Fachschulausbildungen sind Länderangelegenheiten und können nicht über den Bund geregelt werden. Ausbildungen nach BBiG bewegen sich immer auf DQR 4 Niveau. Eine Angliederung der Erzieher*innenausbildung (Fachschulen/-akademien generell) ist nicht möglich. Die Überführungen der Erst- und Weiterbildungen im Bereich Sozialwesen in das BBiG benötigen eine Grundgesetzänderung. Alle Berufsfachschulen, höhere Berufsfachschulen und Fachschulen/-akademien im Bereich Sozialwesen sind über die Bundesländer und damit auf der Ebene der KMK geregelt.
Eine Überführung dieser Ausbildungen in das BBiG führt zu einer massiven Abwertung der Ausbildungsniveaus.
Die Fachschulen/-akademien verantworten ein Ausbildungssystem, das quantitativ und qualitativ auf der Höhe der Zeit ist und jedes Jahr Rekordzahlen an gut ausgebildeten „Staatlich anerkannten Erzieher*innen“ in den Arbeitsmarkt entlässt.
Kurzsichtige und folgenschwere Attacken auf das Weiterbildungssystem durch die Unterzeichnenden des „ver.di Papiers“ gefährden die Zukunft des gesamten Aus- und Weiterbildungssystems im Bereich Sozialwesen und damit auch der sozialpädagogischen Berufe in Deutschland.
Der anhaltende Fachkraftmangel und die notwendige Fachkräftegewinnung kann nicht allein über die Ausbildung und schon gar nicht über die Veränderung der Ausbildungsstruktur gelöst werden.
Nur wenn es den Tarifpartnern gelingt, dass die Erzieher*innen in den Einrichtungen Strukturen vorfinden, die einen langjährigen Verbleib attraktiv machen und nur wenn ihnen unbefristete Arbeitsverträge mit angemessenen Gehältern angeboten werden, kann der Mangel an Erzieher*innen nachhaltig bekämpft werden.
Hier finden Sie das Schreiben als Dokument.